Konstruktive Debattenkultur im Netz: eine Aufgabe für Schulen gerade in Corona-Zeiten?

Simone Rafael, Chefredakteurin von BelltowerNews, im Gespräch mit Sandra Zentner, Geschäftsführerin der Stiftung Lernen durch Engagement, über Handlungsansätze, um eine konstruktive Debattenkultur im Netz zu stärken und welche Rolle dabei zivilgesellschaftliche Initiativen übernehmen können

Haben Sie Hoffnung, dass eine konstruktive Debattenkultur im Internet möglich ist – und warum?

Auf jeden Fall habe ich diese Hoffnung. Denn meine Arbeit und die Erfahrungen, die wir als Stiftung Lernen durch Engagement insbesondere in unserem Projekt #netzrevolte sammeln, bestärken mich darin, dass
junge Menschen das Potenzial haben und viel persönliche Motivation mitbringen, sich im digitalen Raum zu engagieren und zu konstruktiven Debatten beizutragen. Die entscheidende Frage ist für mich: Wie können wir dieses durchaus vorhandene, aber noch nicht in der breiten Masse sichtbare Potenzial besser heben und die
digitale, demokratische Handlungskompetenz aller Kinder und Jugendlichen stärken?

Die Ergebnisse des aktuellen, dritten Engagementberichts der Bundesregierung zeigen, dass knapp 64% der befragten jungen Menschen sich nach eigener Aussage gesellschaftlich engagieren, ca. 40% tun dies teilweise bis vollständig digital. Zugleich stellt die Studie fest, dass Jugendliche aus gymnasialen Bildungswegen deutlich aktiver sind und ihre Kompetenz höher einschätzen, sich z. B. konstruktiv in
Diskursen mit Trollen auseinanderzusetzen. Diese „digitale Kluft“ zeigt sich auch in der großen ICILS-Studie zu digitalen Kompetenzen: Achtklässler*innen aus weniger privilegierten Elternhäusern schneiden bei den Ergebnissen deutlich schlechter ab und können z. B. Informationen im Internet nicht ausreichend reflektieren und konstruktiv damit umgehen.

Für uns ist es daher wichtiger denn je, bereits früh alle jungen Menschen, unabhängig von Herkunft und Bildungsweg, für demokratisches Engagement – online wie offline – zu erreichen und zu stärken. Mit der Lernform Lernen durch Engagement für Schulen aller Schulformen zielen wir genau darauf ab: Kinder und Jugendliche verbinden fachliches Lernen mit einem gesellschaftlichen Engagement. Unser Projekt #netzrevolte zeigt, dass diese Art zu lernen auch demokratische und digitale Bildung miteinander verbinden kann.

Wie bekommen wir es besser hin, dass Debatten online konstruktiv geführt werden?

Dass Debatten online häufig destruktiv sind, liegt u. a. an der Anonymität des Netzes: Aussagen sind schwerer strafrechtlich nachzuvollziehen und Hemmungen sind niedriger als bei Face-to-Face-Kontakten. Hinzu kommt, dass eine kleine Anzahl von Trollen so destruktiv sein kann, dass konstruktive Akteur*innen sich resigniert zurückziehen. Hier können wir ansetzen. Es braucht Strategien, wie konstruktive Akteur*innen sich koordiniert zusammenschließen und damit verhindern, dass der Diskurs sich verschiebt. Dazu braucht es aber entsprechende Kompetenzen und die Überzeugung, selbst wirksam sein und etwas beitragen zu können.

Solche Themen gehören daher unbedingt in die Medienbildung der Schulen und lassen sich hervorragend mit bestehenden curricularen Inhalten wie etwa dem Argumentationstraining in Deutsch oder der Auseinandersetzung mit Werten im Ethik- und Philosophieunterricht verbinden. Dadurch, dass Lernen durch Engagement eben dieses fachlichen Lernen mit zivilgesellschaftlichem Engagement verknüpft, wird die Relevanz der Lerninhalte erfahrbar und Jugendliche spüren, dass sie mit ihrem Handeln Einfluss auf die Debattenkultur nehmen können.

In unserem Projekt #netzrevolte, das wir mit Schulen unseres bundesweiten Netzwerks aktuell erproben, sieht das z.B. so aus: Schüler*innen einer bayerischen Mittelschule beschäftigten sich in Deutsch mit demokratischen Werten und der Analyse von Hasskommentaren im Netz und komponierten in Kooperation mit einem Künstler einen Menschenrechte-Song in wertschätzender Sprache, den sie auf Youtube und bei lokalen Veranstaltungen verbreiteten. Im Nachgang waren die Jugendlichen selbst mit Hasskommentaren auf ihren Youtube-Post konfrontiert, setzten sich in der Lerngruppe damit auseinander und formulierten gemeinsame konstruktive Antworten auf die Kommentare. Wenn Jugendliche sich auf diese Weise in Argumentation und Gegenrede trainieren und ihre Handlungskompetenz und Beteiligungsfähigkeit stärken, können sie sich auch hervorragend als Multiplikator*innen engagieren und in die weitere Zivilgesellschaft
hineinwirken.

Was kann zivilgesellschaftliche Arbeit tun, um Radikalisierung im digitalen Raum zu verhindern?

Auch hier liegt aus meiner Sicht ein entscheidender Schlüssel in der gezielten Stärkung der Demokratiekompetenz von Kindern und Jugendlichen. Sie müssen offline wie online in der Lage sein, antidemokratische und radikalisierende Tendenzen zu erkennen und sich ihnen zu widersetzen. Denn: Der Bericht Rechtsextremismus im Netz 2018/19 zeigt bestimmte wiederkehrende Faktoren auf, die von einer kleinen, aber gefährlichen Gruppe an Influencern für die Radikalisierung von Jugendlichen genutzt werden: Sie schaffen ein klares Feindbild verbunden mit einer sprachlichen Entmenschlichung des wahrgenommenen Feindes, sie emotionalisieren den Diskurses häufig mit Hilfe von Bildern und Musik, sie verbreiten systematisch Fake News, generieren massenhaft Content und entwickeln so eine Hassdynamik. Da diese Kommunikation oft in den eigenen Channels, auf separaten Plattformen oder in geschlossenen Gruppen stattfindet, ist der breite Zugriff der Zivilgesellschaft auf die Radikalisierungsprozesse stark erschwert.

Vor diesem Hintergrund ist es umso bedeutsamer und absolut unerlässlich in die Präventionsarbeit mit Kindern und Jugendlichen zu investieren. Als zivilgesellschaftliche Organisation setzen wir uns daher gemeinsam mit Schulen und Partner*innen aus Zivilgesellschaft und Bildungsverwaltung bundesweit dafür
ein, jungen Menschen bereits früh Beteiligung an demokratischen Prozessen zu ermöglichen. Je mehr positive Erfahrungen sie damit sammeln, je mehr sie dabei Kompetenzen wie Empathie und Perspektivübernahme, Konflikt- und Dialogfähigkeit und kritisches Denken ausbauen und erproben können, desto selbstbewusster, wirksamer und widerstandsfähiger werden sie gegenüber antidemokratischer und
radikalisierender Einflussnahme. Sie entwickeln eine kritische Haltung, stellen sich der Entmenschlichung Dritter entgegen und bekommen gleichzeitig das Werkzeug an die Hand, um Informationen zu überprüfen und sich selbständig eine Meinung zu bilden. Hierdurch sind sie weniger anfällig gegenüber der oft unterschwelligen Manipulation von radikalen Gruppen.

Wie können wir mit der destruktiven Kraft von Desinformation umgehen?

Eine Studie der Vodafone Stiftung aus dem Jahr 2018 hat ergeben, dass 64% der Jugendlichen mindestens einmal pro Woche mit Fake News konfrontiert werden, aber gleichzeitig 40% der Jugendlichen unsicher sind, ob sie Fake News richtig erkennen. In diesen Zahlen spiegelt sich die zentralen Aspekte der destruktive Kraft von Fake News gut wider: Sie werden massiv verbreitet, gerade, da es sich häufig um vermeintlich schockierende oder dringliche Informationen handelt und – nicht nur – Jugendlichen fehlen oft die Instrumente, Informationen zu überprüfen.

Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund alarmierend, dass das Internet und Soziale Medien längst den klassischen Medien den Rang abgelaufen haben im Bereich der gezielten (politischen) Informationsquellen unter Jugendlichen. Im deutschen Bildungssystem spiegeln sich diese Entwicklung bislang kaum wider. Auch wenn mittlerweile mit etwa 23 Prozent der Lehrer*innen deutlich mehr als noch Jahre zuvor die digitalen Medien in ihrem Unterricht täglich nutzen, liegt Deutschland mit diesem Ergebnis im internationalen Vergleich nach wie vor weit hinten.

Daher setzen wir uns dafür ein, Schulen und Lehrer*innen, die daran Interesse haben, mit Vernetzung, Fortbildungen und Materialien zu unterstützen, um Themen wie Fake News und andere demokratiegefährdende Phänome im Netz stärker in den Fokus von Unterricht und Lernen zu nehmen. Auch hier knüpft unser Projekt #netzrevolte an, denn u. a. sind Themen wie Quellenanalyse, Informationen suchen, kritisch bewerten und bearbeiten etc. bestehender Teil der Bildungspläne. Im digitalen Zeitalter ist es unerlässlich, dies auch auf digitale Medien zu übertragen und damit direkt an der Lebenswelt der Schüler*innen anzuknüpfen – was Lernen durch Engagement, und speziell #netzrevolte, hervorragend ermöglicht. So können Schüler*innen beispielsweise ein Spiel und Training für andere junge Menschen entwickeln, das sie Fake News erkennen lässt. Ein Engagement von Schüler*innen in diesem Bereich hat ein enormes Potenzial, weitere Jugendliche auf Augenhöhe zu der Gefahr von Desinformationen zu sensibilisieren und Ketten von Falschinformationen zu unterbrechen.

Das Projekt #netzrevolte der Stiftung Lernen durch Engagement wird derzeit u. a. in Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen in Zusammenarbeit mit den Bildungs- bzw. Kultusministerien erprobt.